Orestie des Aischylos als Gründungsmythos einer Rechtsordnung


Die Orestie des Aischylos  stellt als dramatische Darstellung von Handlungs- und Gebotskonflikten mit deren Lösung eine Grundlegung von – politisch institutionalisiertem, durch ein staatlich organisiertes Volk gemeinschaftlich getragenem – Recht dar.

Sie wurde als „Gründungsmythos des Rechtsstaats“ bezeichnet (Bernd Seidensticker).

Christian Meier hat in "Die politische Kunst der griechischen Tragödie" (VEB Verlag der Kunst 1990) eine beachtenswerte Zusammenfassung der Handlung der Orestie und ihrer politischen Bedeutung ihrer tragischen Konflikte und deren Lösung in den Eumeniden gegeben.

Empfehlenswert ist die neue Übersetzung von Kurt Steinmann (Erschienen bei Reclam ISBN 978-3-15-019535-2). Der Text des griechischen Originals findet sich in den pegasus Datenbanken.


1.

In dieser dreiteiligen antiken Tragödie findet mit dem Gedächtnis der Verletzung von göttlich geschützten Handlungsbereichen eine Verwandlung der mit verschiedenen Weisen von Macht durchzusetzenden Auffassungen von Recht (dike) und Gerechtigkeit (dikaiosyne) statt, die den Begriff des als Volk (einer Stadt, eines Staates) gemeinschaftlich zu verantwortendem Recht an die Erhaltung des Gemeinschaftslebens der Vielen (poleis) und die selbstbeherrschte Besonnenheit (sophrosyne) ihrer das Ganze repräsentierenden Vertreter bindet.

Wesentlich für diese konfliktlösende Gründungsverwandlung zur Ausbildung einer das Volk repräsentierenden Institution der Anspruchskonflikte auf Recht entscheidenden Rechtsprechung ist die Integration der treibenden „Gerechtigkeitsmächte“ in die staatlich verfasste Rechtsordnung (ewige Satzung - „für alle zeit“ v 484).

Die Einbindung der – in der in Geist und Psyche der Menschen wirkenden – Rachegeister (Erinyen) durch Wandlung der das Handeln von einzelnen Personen unmittelbar bestimmenden Vergeltung zu einer strafandrohenden, die Furcht vor im kollektiven Gedächtnis verankerten, im Mythos als zerstörerischer Verhängniszusammenhang erinnerten Konsequenzen von Rechtsverletzung tragender Macht vollzieht die Orestie in ihrem dritten Teil, den „Eumeniden“. Der das Denken und die Urteilskraft zerrüttende Geist der Rache wird mit göttlicher Kunst der Überredung und Besänftigung nur in Verbindung mit der satzungsgründenden Zuweisung der die Ehrfurcht (in der Achtung von Würde und Recht) stützenden Furcht (vor den unvermeidlichen Konsequenzen der Hybris) … zu den – dem Volk und der rechtlichen (rechtsverantwortlichen) Urteilskraft der in ihm verantwortlich handelnden Personen – Wohlgesonnenen.

Ausgang des Konflikts, wie ihn Aischylos im ersten Teil, dem Agamemnon durch den Chor vergegenwärtigen läßt, ist das Rechtsverständnis der zeusunmittelbar verpflichteten Könige, die nicht anders können als das verletzte Gastrecht wiederherzustellen, indem sie die Verletzung vergelten. Auf die in diesem Rachefeldzug selbst zu bringenden Opfer können sie keine Rücksicht nehmen, verletzen dadurch aber ihre Fürsorgepflicht für die Stadt, die Familien und die Jugend.

Das allein dem Rechtsgebot des Zeus xenios, des Hüters des Gastrechts, verpflichtete Handeln der Könige, die als „Städtezerstörer“ eine kriegerische Streitmacht ihrer Verbündeten organisieren, verletzt die Gebote des durch Artemis gehüteten Schutzbereichs der (auf die Familie bezogenen) Fortpflanzung des Lebens.

Die in diesem Handlungsbestimmungskonflikt zu erkennende Not stellt der Mythos durch die Opferung von Iphigenie, der eigenen Tochter von Agamemnon und Klytaimestra dar, die mit dem Bild der das Jagdtabu brechenden Tötung der trächtigen Häsin (durch zwei sie schlagenden Adler) auf die Verletzung des Schutzbereichs der Artemis auf die nicht (als Recht) rechtfertigbaren Opfer und die Vergeltung (nach dem Gesetz der Blutrache) verweist.


Von tragender Bedeutung für die mit der Verwandlung einhergehenden Bildung des Bewußtseins von zu integrierenden Rechtspflichten und ihrer Ehrfurchts- und Achtungsgründe ist das im zweiten Teil, die Choephoren, in die Beachtung gehobene Totengedächtnis und der Verschiebung der noch von Apollon gebotenen Vergeltungshandlung zum Auftritt der Rachegeister, die Urteilskraft des polisverantwortlichen Königssohns, Orest, zerrütten, ihn in die Flucht treiben und zum Schutzflehenden werden lassen (wie die Frauen der Danaiden). Die Erinyen haben eine entscheidende Funktion für die Überwindung des handlungsbestimmenden Vergeltungsgebots, wie es in der Gegenrede zu ihrem Anspruch (im dritten Teil) noch Apollon repräsentiert, der Orest ja geboten hatte, den Mord an seinem Vater und König durch Muttermord zu rächen.

v 750 „Fehlt es an Urteilskraft, stellt großes Leid sich ein.“

Das die Polis zerrüttende Unmittelbarkeit der exekutiven Vertretung des durch Menschen verletzten göttlichen Rechts wird durch Zeus (als Hüter des Gastrechts) und durch Apollon repräsentiert, während die auf des gerichtliches Gewissen bezogenen Erinyen nicht das Handeln anderer Personen bestimmen, sondern (wie durch den sie erinnernden Schatten der Klytaimestra angezeigt) durch jene Toten bestimmt werden, deren Rechtsanspruch sie unmittelbar im Geist der schuldhaft Lebenden zur Geltung bringen.

Während Apollon noch (in der Streitrede mit den den Chor bildenden, mit der bevorstehenden Entscheidung, was Recht für die rechtsverantwortliche Entscheidung für ein Volk bedeutet, zu Eumeniden werdenden Erinyen) sein Vergeltungsgebot als Recht verteidigt,

vertritt der Chor den Achtungsanspruch ihrer Macht in der gedächtnisgetragenen Beachtung des zu Fürchtenden. (Einsetzung des Wächterrats: „es wird von ihm ausgehend der Bürger Ehrfurcht und mit ihr verwandt die Furcht dem Unrecht wehren.“ v 691

„Denn wer der Menschen, der nichts fürchtet, bleibt gerecht?“

v 698: „Denn welcher Mensch, der nichts mehr fürchtet, hält sich an das Recht?“

(Die Furcht vor den Gemeinsinn zerrüttenden Konsequenzen wird eingebunden in die Achtung der Satzung, die ein verehrendes Gedächtnis der alten Weisheit und ihrer ursprünglichen Gebote als kultische Verehrung / Achtung integriert → themis im nomos. → Wider Bürgerkrieg, Anteile des zu Beachtenden an den Achtungshandlungen)

- wechselseitige Achtung (in der Grundgesetzgebung):

v 435 „wenn unsere verdiente Achtung du erwiderst mit verdienter Achtung“


2.

Die (wütenden) Rachegeister (Erinyen) werden durch überredende Reden besänftigt, sich den Zwecken der Polisgemeinschaft einzuordnen, die Vergeltung in Sanktionen eines Rechts zu verwandeln, das als durch göttliche Satzung gegeben zugleich menschlich verantwortet wird.

Die Rachegeister können nicht durch Vernunftgründe überzeugt werden, da sie nicht selbst gesetzgebende Vernunftwesen sind, nicht selbständig das von ihnen befolgte und durchzusetzen sie bestimmende „alte“ Gesetz erneuern können (kein Träger der Gesetzgebung, sondern Träger der zu befürchtenden Sanktionen von Gebotsübertretung – von Verletzung jener Gebote, die die elementaren Bedingungen des sich fortpflanzenden Lebens – in Familie und Stamm – betreffen.)

Angebot und Überredungskunst in der Rede der Athene zu den nun den Chor (in Vertretung des Volkes) bildenden Erinyen, die zu Eumeniden (den der Stadt und dem Volk „Wohlgesonnenen“) werden (sich wandeln)sollen.

Das Gemeinsame der (Licht-)Gottheit und der Nachtgöttinnen im Verhältnis zu den Menschen als Bürger der Polis nennt die Orestie den Rat und das Anliegen, dass „weder das Unbeherrschte noch das Gewaltbeherrschte“ durch die Bürger zu achten sei –

V 696 Athene / V 526 Erinyen im Chorlied

vgl. Meier S. 131 – sich aus den überkommenen „Führungsverhältnissen“ durch den Adel (der – in den Entscheidungen des Areopag – eben nicht mehr das Edle verkörpert hatte und darum durch Beschluss der Volksversammlung und dem Betreiben des Ephialtes aufgelöst und auf die Blutgerichtsbarkeit beschränkt worden war).

v 526 met' anarkton bion / mete despotoúmenon / aineses

„weder ohne Herrn / noch der Herren Knecht sein, sei dein Wunsch“  (Oskar Werner)

wrtl.: weder anarchisch = (selbst-)unbeherrscht lebend, noch despotisch beherrscht sein, heiße gut / sei empfohlen, sei gelobt.

Ü. Kurt Steinmann: „Weder ein Leben in gesetzloser Willkür / noch ein despotisch regiertes / heiße gut.“

Athene: v 696 to met' anarchon mete despotoumenon ...

Werner: „Nicht obrigkeitlos noch Tyrannenknecht zu sein / Rat Bürgern ich als ihres Strebens höchstes Ziel, / und – nicht die Furcht ganz fortzubannen aus der Stadt.

Denn wer der Menschen, der nichts fürchtet, bleibt gerecht?

Steinmann: „Nicht herrschaftsfreie Willkür und nicht unbeschränkte Despotie / rat ich den Bürgern hochzuachten mit Respekt / und Furcht und Schrecken nicht ganz aus der Stadt zu bannen.“


sophronein hypo sténei - Durch Not (Leiden) denken lernen (v 519) – Weisung der Eumeniden

v 520 „Nützlich ist es, besonnenes Denken zu lernen unter dem Druck der Not.“

(vgl. Ernst Bloch: Die Not lehrt denken.)

Thematisch ist die Verbindung von Furcht und Ehrfurcht.

Furcht (vor Unheil und den zerrüttenden Folgen der Verletzung des als würdig zu Achtenden) zeigt sich als Bedingung der Achtung des Rechts: Beherrschung als Selbstbeherrschung in Erzählgedächtnis gestützter Bildung von Besonnenheit und Achtung in Einsicht der Gründe von verpflichtenden Gesetzen des Rechts (in Abwehr von nicht zu wollender Verletzung).